Leseprobe INENODABILIS

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Sie gehen, siehst Du?“, fragte der Hagere den Fahrer.

Der nickte nur.

„Was die da wohl treiben, in dem Laden?“, fragte der Hagere wieder.

Der Fahrer zuckte mit den Schultern.

„Ich würde das zu gern wissen“, fuhr der Hagere fort.

Der Fahrer reagierte nicht.

„Du nicht auch?“, fragte der Hagere wieder, diesmal mit etwas Nachdruck.

„Mann, wenn Du das wissen willst, dann musst Du nachschauen. Aber vergiss nicht, den Chef vorher zu fragen. Sonst reißt der Dir den Kopf ab.“

Der Hagere sah noch immer den beiden Männern hinterher, die zu einem Wagen liefen.

„Würde es zu gern wissen“, sagte er wieder.

„Ach, halt die Klappe“, sagte der Fahrer und startete das Auto. „Hier passiert heute nichts mehr. Wir hören auf für heute.“

Der Hagere war still und sagte nichts mehr. Er sah nur noch auf die Straße und dachte „Arschloch.“ Gesagt hätte er das nie. Er wollte schließlich nicht irgendwo in der Pampa landen, womöglich in Bautzen Volksfeinde beaufsichtigen oder in einem Archiv irgendwelche Karteikarten sortieren. Hier im Westen beim kapitalistischen Feind gefiel es ihm besser. Sie fuhren durch die Stadt, bis sie vor einem Tor hielten, an dem ein Messingschild befestigt war. Darauf stand „Wirtschaftskooperation für Internationale Beziehungen.“ Das Tor schloss sich automatisch hinter dem Wagen, der direkt in eine der offenen Garagen fuhr.

 

Auf der anderen Seite der Straße stand ein dunkler Wagen und zwei Männer beobachteten das Haus, als der Wagen kam. Das Tor öffnete sich und der Wagen fuhr in eine der offenen Garagen.

„Sie sind wieder hier, haben offensichtlich ihre Aufgabe für heute beendet. Ich denke, wir sollten den Kollegen informieren, dass hier zwei Neue aufgetaucht sind. Die sollen unsere Fotos auswerten, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben“ sagte der Fahrer mit leicht bayerischem Einschlag.

Der Beifahrer nickte und meinte: „Die Ablöse kommt, wir können.“

In dem Moment fuhr ein ebenfalls dunkler Wagen dicht an ihnen vorbei. Der Fahrer des ankommenden Wagens sah kurz herüber, nickte und stoppte wenige Meter darauf.

„Wir können“, wiederholte der Beifahrer. Daraufhin startete der Fahrer den Wagen und fädelte sich in den Verkehr ein.

 

Am nächsten Morgen waren wir beide schon früh im Laden und saßen in unserem Büro, um die gestrigen Themen noch einmal zu diskutieren. Die beiden Frauen kamen im Laufe des Vormittags dazu. Maria bemerkte, dass wir wohl noch eher zu arbeiten anfingen, als früher im Polizeidienst und machte sich daran den Kaffee aufzusetzen. Einige Stunden später

„Übrigens, heute wollte schon jemand zu uns“, rief Maria gegen Mittag, „Heute war jemand an der Tür vorn und schaute die ganze Zeit ins Schaufenster.“

Max fragte: "Und was wollte er?“

„Nicht er, eine sie war das“, kam es von Maria zurück. In diesem Augenblick standen wir beide im Laden.

„Eine Frau?“, kam es fast gleichzeitig von mir und Max. „Wo ist sie?“, fragte Max nach.

Doch Maria sah uns erstaunt an und zuckte mit den Schultern „Keine Ahnung. Ich glaube, sie ist die Straße runtergegangen.“

Im gleichen Moment waren wir Männer vor der Tür und liefen links bzw. rechts die Straße entlang. Ein paar Augenblicke später standen wir atemlos wieder vor der Tür.

„Nichts, wie vom Erdboden verschluckt“, sagte ich, „Allerdings kann sie hier ja jede Seitenstraße genommen haben oder in einem der Läden verschwunden sein. Bäcker, Metzger, Obst- und Gemüseläden gibt‘s hier ja genug.“

Wir wandten uns um und gingen in den Laden zurück. Nur wenige Minuten später rief Maria wieder, diesmal leise, aber eindringlich.

„Da ist sie wieder, kommt vor. Sie steht vor dem Laden gegenüber.“

Ich stürmte an das Ladenfenster und schaute raus.

„Verdammt, das ist sie, das ist die, die ich vor Monaten gesehen habe. Und so wie sie aussieht, suchte sie damals im Büro nach Dir", sagte Max.

Mit seinem letzten Wort war ich vor der Tür.

„Hallo, hallo, Sie“, rief ich zu der Frau hinüber. „Ich würde gern mit Ihnen sprechen.“

Die Frau drehte sich langsam zu mir um und schaute mich fragend an. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie wenig freundlich und sehr distanziert.

Ich stellte mich vor und bot ihr an, in meinem Laden einen Kaffee zu trinken, denn ich würde gern mit ihr sprechen. Zögernd kam sie mit, und als sie Max und Maria sah, wurde sie noch zögerlicher.

„Eigentlich habe ich keine Zeit“, bemerkte sie. „Ich sollte wieder gehen.“

Doch ich stand ihr im Weg und fragte sie direkt.

„Ich habe Sie schon mal gesehen, kann das sein? Hatten Sie mich schon mal im Polizeipräsidium besucht?“

Die Frau schaute unruhig die Anwesenden an und machte wieder Anstalten zu gehen.

„Kann es sein, dass Sie mich suchten? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

Dabei drückte ich ihr eine Tasse Kaffee in die Hand und zeigte auf einen Stuhl. Sie setzte sich etwas widerwillig nieder und atmete angestrengt durch.

„Wenn Sie Georg Rosa, der Hauptkommissar, sind?“, sagte sie.

Ich nickte.

„Nur Hauptkommissar bin ich nicht mehr, denn seit ein paar Tagen bin ich im Ruhestand.“

„Ah, dann können Sie mir nicht mehr helfen, dann bin ich zu spät gekommen“ reagierte die Frau resigniert und wollte wieder aufstehen.

Diesmal drückte Max sie sanft auf den Stuhl zurück.

„Warten Sie, ich denke, wir können heute mehr für Sie tun, als früher. Vielleicht können auch Sie uns helfen. Lassen Sie es uns versuchen.“ Die Frau sah uns fragend an und nickte.

Dann fing sie an zu erzählen.

In der Zwischenzeit hatte sie sich ihres Mantels entledigt, und trank den Kaffee in den Pausen, die sie machte. Ich schätzte sie so um die 60 Jahre, sie hatte fast weißes Haar und sah wirklich gut und sehr gepflegt aus. Die Kleidung war nicht in billigen Läden gekauft worden und auch die Schuhe sahen ziemlich teuer aus. Auf jeden Fall waren sie blitzblank. Fast eine Stunde lang hatte sie uns ihre Geschichte erzählt und war doch noch nicht am Ende. Doch plötzlich sprang sie auf.

„Um Gottes willen, ich habe den Termin vergessen. Ich muss dringend zu meinem Rechtsanwalt. Ich komme viel zu spät.“

Ich fragte: „Wer ist denn Ihr Rechtsanwalt, können wir Sie dahin bringen?“

Sie erwiderte: „Ich muss zu Dr. Hoffmann in die Königstraße.“

„Dr. Frank Hoffmann?“ Uns Männern verschlug es den Atem.

Sie sah uns fragend an und nickte. „Warum?“, fragte sie.

Ich erwiderte „Ach nur so.“ Frank Hoffmann, schon wieder so ein Zufall? Wir boten der Frau an, die sich als Karin Luther vorgestellt hatte, zu Dr. Hoffmann zu bringen. Sie würde es gerade noch rechtzeitig zu ihrem vereinbarten Termin schaffen. Gesagt, getan, wir gingen über den Hof zur anderen Straße, auf der mein Wagen geparkt war. Wir fuhren nicht immer ganz vorschriftsmäßig bis in die Schmale Straße, von dort aus begleiteten wir sie zu Fuß in die Königstraße. Auf dem Eingang stand

Dr. Frank Hoffmann, Rechtsanwaltskanzlei.

„Hier sind wir, dürfen wir Sie morgen nochmal sprechen?“, fragte Max.

„Ich werde morgen gegen 9 Uhr wieder in der Mozartstraße sein, wenn Sie es wünschen“, erwiderte sie, nickte.

„Ich möchte erfahren, wie Sie mir helfen können.“

Damit verabschiedete sie sich und ging ins Haus. Während Max auf mich einsprach, überlegte ich, was diese Vorstellung von Karin Luther war. Was hatte sie erzählt? Was war das für eine Geschichte und wieso hat sie uns das alles erzählt?

„Sollten wir dem Herrn mal auf den Zahn fühlen?“, fragte Max ein weiteres Mal. Doch ich schüttelte den Kopf.

„Lass mal, nun wissen wir, dass er hier ist und mit dieser Frau einen Umgang pflegt. Wie die Beziehung aussieht, werden wir sehen. Möchtest Du eine Brezel?“

„Was, eine Brezel, wieso?“ fragte Max.

Doch ich war schon auf dem Weg zum Brezelstand.

„Lass uns mal in aller Ruhe eine Brezel essen und dann sehen wir weiter. Vielleicht läuft uns die Dame nochmal über den Weg. Schau, da oben bewegte sich der Vorhang im 2. Stock. Das sind seine Büroräume.“

Max schaute mich unvermittelt an.

„Woher weißt Du ...?“

Ich lachte.

„Auf seinem Schild stand 2. Stock. Und deshalb wollte ich auf der anderen Straßenseite stehen, um zu sehen, ob er nach unten zu uns rüber schaut. Genau das hat er getan. Also weiß er, dass wir da sind. Und wir wissen, dass er damit zu tun hat, was immer es ist bzw. was die Dame uns da weiszumachen glaubt.“

Max zog die Augenbrauen hoch und maulte.

„Der soll uns kennenlernen.“

Ich wies mit dem Kopf Richtung Bahnhof und wir beide schlenderten wie gelangweilt die Königstraße hinauf. Allerdings, an der nächsten Ecke bogen wir ab und dann gleich wieder. Ein paar Schritte weiter und wir hatten das Gebäude, in dem Frank Hoffmann sein Büro hat, wieder im Blick. Auch den Eingang sah man von dort. Wir selbst standen nun hinter einem der Bäume und waren von Hoffmanns Büro kaum auszumachen. Kurze Zeit später tauchte Karin Luther am Eingang des Hauses auf und lief, ohne sich umzusehen, die Königstraße entlang. Dann bog sie abrupt rechts ab, um in Richtung Rotebühlplatz zu laufen. Am Taxistand stieg sie in ein Taxi und fuhr mit ihm weiter in Richtung Stuttgart West.

„Weg ist sie“, sagte ich, „Doch das macht nichts, wir wissen nun mit wem sie verkehrt und müssen nur Geduld haben. Mit etwas Glück taucht sie morgen bei uns auf.“

Wir gingen zurück zu Hoffmanns Gebäude, doch in den darauffolgenden Stunden kam sie nicht wieder. Allerdings kam Hoffmann ein paar Minuten vor 20 Uhr und verließ das Haus. Gleich nebenan wartete ein Taxi auf ihn, in das Hoffmann stieg. Max schrieb sich die Nummer auf

„Mal sehen, ob wir über den was rauskriegen“, brummelte er.

 

Am nächsten Morgen rief Max die Taxizentrale an.

„Das Taxi mit der Nummer 35 fuhr gestern Abend nach Stuttgart West in die Werther-Straße 10. Wollen wir sehen, was da ist?“

Ich nickte, „Ja aber erst heute Nachmittag, falls unsere Dame wieder kommen sollte. Dann wäre es doch blöd, wenn wir nicht da wären, oder?“

Max bejahte, doch er hatte einen Einfall.

„Es reicht doch, wenn Du da bist und ich vor dem Haus Werther Straße warte. Wenn sie weg ist, schau ich mal, was ich tun kann. Sie ist dann ja mindestens eine Stunde unterwegs, bevor sie wieder zurück sein kann."

Ich fand das auch eine gute Idee und so verließ Max das Haus am nächsten Morgen, um nach Stuttgart West zu fahren.

 

Karin Luther trat eben aus dem Haus und winkte einem Taxi, das vor der Tür am Straßenrand stand. Max stieg aus seinem Auto und schlenderte zum Haus mit der Adresse Werther Straße 10. Erst sah er sich die Namenschilder neben den Klingeln an. H.-P. Weicher, H.-J. Hartherz, W. Muthlos, A. Gartenmann, Buchhalter, K. Luther, ein Namensschild war leer, ein anderes nicht komplett lesbar. Beide im Erdgeschoss. Die Rollläden waren bei beiden Wohnungen heruntergelassen.

„So ein Glück, ich suche Kurt Kübler", sagte Max zu dem Postboten, der eben an die Briefkästen trat.

„Kenne ich nicht, wen suchen Sie?“

Max versuchte es nochmal.

„Der Kurt ist der Mann von Karin?“

Der Briefträger schaute Max an.

„Karin, Karin Luther vielleicht, da ist ab und zu ein Mann da, aber ob der Kurt heißt, keine Ahnung.“

Max bedankte sich artig und wollte eben den Eingangsbereich verlassen. Im gleichen Moment kam eine Person aus dem Haus und Max drehte sich wieder um, um in die noch geöffnete Tür zu schlüpfen. Er nahm die Treppe in schnellen Schritten, so dass die Person nicht mehr dazu kam, ihn anzusprechen. Er hörte nur noch „Unerhört.“

Er ging die Treppe hoch, bis er vor dem Türschild Luther zu stehen kam. Er nahm eine Kreditkarte [i] und zog sie von oben nach unten im Türrahmen lang. Doch nichts passierte. Er probierte es ein zweites Mal und siehe da, die Tür ging auf. Frau Luther hatte offensichtlich die Türe nur zugezogen, aber nicht abgesperrt. Er hörte einen Moment auf Geräusche, doch aus der Wohnung kam kein Ton. Er ging hinein. Max sah in alle Räume, schaute in Schubladen und Schränke, fand jedoch nichts, was aus seiner Sicht wichtig gewesen wäre. Es gab aber auch nichts, die Wohnung war eigentlich ungewöhnlich unpersönlich. Es gab keine Bilder, keine Fotos, nichts, was auf eine Person oder Familie hingewiesen hätte. Gerade so, als würde man darin nicht wirklich wohnen, sondern nur für eine gewisse Zeit übernachten. Es gab nichts was auf das Privatleben von Karin Luther schließen ließ. Er war wohl mehr als eine halbe Stunde in der Wohnung, als er sie verließ und die Türe wieder hinter sich zuzog, nicht jedoch ohne die Fingerabdrücke auf dem Türgriff sorgfältig wegzuwischen.

„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“ grinste er und ging die Treppe hinunter. Es kam ihm diesmal niemand in die Quere und so verließ er das Haus ungesehen.

 

„Und, erzähl“, sagte Max und war damit nur einen Moment schneller, als ich mit der gleichen Frage.

„Also gut, ich erzähl“, erwiderte ich und schob Max eine Tasse Kaffee über den Tisch zu. „Du wirst ihn brauchen, es wird ein wenig dauern.“

„Verdammt, verdammt!“, schimpfte Max, „Das ist ja eine tolle Geschichte, glaubst Du sie?“

Ich wiegte meinen Kopf hin und her.

„Nun ja, vielleicht, vielleicht ein wenig. Ich habe so das Gefühl, als wenn sie uns einen Teil wahrheitsgetreu erzählt, einen anderen Teil weggelassen und anderes dazu erfunden hat. Irgendwie kommt mir das so vor, kanns aber noch nicht begründen. Du weißt doch, dass Unwahrheiten am besten zwischen Wahrheiten versteckt werden können. Was hast Du?“

Max zeigte beide Hände mit den Handflächen nach oben.

„Wie nichts?“ fragte ich, doch Max schüttelte den Kopf.

„Im Gegenteil, schau genau hin.“ Er hielt eine kleine Box hoch. „Ich habe hier den Abdruck eines Schlüssels.“

Und tatsächlich, so war es. Max hatte vorsorglich eine Knetmasse in der kleinen Box mitgenommen und nun den Abdruck eines Schlüssels, der in der Wohnung von Luther lag und in die Wohnungstür passte, einen Abdruck genommen. Vorher hatte er den Schlüssel mit Gesichtspuder, das er im Spiegelschränkchen fand, eingepinselt, damit die Masse nicht am Schlüssel kleben bleibt.

„Mann, wo hast Du das her, da ist ja eine tolle Idee. Aber wie bekommen wir das als Schlüssel?“

„Wir gehen zum Schlüsseldienst, wenn Du einen kennst.“

Gesagt, getan und ich kannte einen Schlüsseldienst. Allerdings war der Mann nicht mehr aktiv, sondern auch ein Pensionär.

„Du weißt, dass ich das nicht darf“, sagte der alte Mann zu uns. „Ich hoffe, ich bekomme deswegen keine Schwierigkeiten, wie Du sie mir früher gemacht hast“, und dabei schaute er mich stirnrunzelnd an.

„Mach, Kurt, ich brauch das Ding und Du bekommst auch keine Probleme, das verspreche ich Dir“, entgegnete ich.

Nach einer halben Stunde hatten wir zwei Exemplare des Schlüssels vor uns liegen, die auch sehr gut in den Abdruck passten. Ich legte einen Schein auf den Tisch des alten Mannes und wir verließen die Werkstatt.

„So können wir immer wieder in die Wohnung“, Max grinste, „Wir könnten die beiden auch überwachen, oder?“

Doch da schüttelte ich den Kopf „Nun mach aber mal halblang, wir wollen doch nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen.“

Max hatte in der Wohnung von Karin Luther nichts gefunden, was uns weiterhelfen könnte und das, was sie mir lang und breit erzählt hatte, war zu wenig, um wirklich etwas damit anfangen zu können. In kurzen Worten hatte ich ihre Erklärungen wiedergegeben. Sie suchte nach dem Antiquitätenhändler, da sie früher mal ein Geschäft mit ihm gemacht hatte. Doch der Mann sei verschwunden. Sie machte sich Sorgen und deswegen war sie auch mal in meinem Dezernat. Sie dachte, ich sollte oder könnte nach ihm suchen. Vorsichtshalber erzählte ich ihr nicht, dass wir genau das taten bzw. noch immer vorhatten. So gingen wir die Straße zum Auto hinunter, um für heute nach Hause zu fahren. Auf der Heimfahrt ging mir alles nochmal durch den Kopf. Was von den Erzählungen der Karin Luther stimmte? Was davon nicht?

Nichts passiert hier“, erklärte ein hagerer Mann seinem Nachbar, der nervös an einer Zigarette zog.

„Das war alles umsonst, was wir hier machen“, sprach der Hagere weiter.

Der andere zog wieder an der Zigarette. „Ich glaube, unsere Oberen wissen nicht genau was hier vor sich geht“, fuhr er fort.

Der Raucher hat inzwischen seine Kippe auf die Straße geschnippt und schaut den Hageren scharf an.

„Lass mal, die wissen schon, was sie tun. Wir gehen jetzt. Hier passiert ohnehin nichts mehr.“

Beide Männer gingen die Straße hinunter und stiegen in einen grauen Opel. Eine Zeitlang standen sie noch so da und beobachten die Straße. Doch als es langsam dunkler wurde, starten sie den Wagen und fuhren weg.

 

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Sie kommen zurück. Wissen unsere Leute inzwischen, mit wem wir es zu tun haben?“, fragte der Fahrer mit leicht bayerischen Einschlag.

Der Beifahrer schüttelte den Kopf. „Nein, die Fotos waren nicht gut genug. Ich muss bei Gelegenheit nochmal welche machen. Am besten, wenn sie das Gelände dieser Wirtschaftskooperation verlassen. Dann habe ich sie von vorn.“

Der Fahrer nickte und startete seinen Wagen, um sich in den Verkehr einzufädeln.

„Lassen wir unserer Ablöse noch ein wenig Arbeit“, dabei lächelte der Fahrer zynisch.




NACHTRAG:

Die Öffnung der Mauer und die Etablierung der sogenannten „Gauck-Behörde“[i], eröffnete viele neue Einblicke in die Vergangenheit der DDR und die Zeit davor. Unzählige Dokumente der Jahre 1945 bis 1989, aber auch für viele Jahre davor, standen in diversen Archiven nun für die Wissenschaft, aber auch für die Öffentlichkeit zur Verfügung. Journalisten, Behörden, Universitäten, und andere Organisationen werten diese bis heute aus. Normale Bürger bekamen das Recht Einsicht in ihre Akten der Staatssicherheit[ii] zu nehmen. Die Ergebnisse all dieser Recherchen brachten zum Teil Unglaubliches zu Tage. Die Realität war oft noch viel abstruser und vielfach noch abscheulicher, als man es sich als normaler Bürger vorstellen konnte. 

 

Nun war man auf Basis von Fakten und Dokumenten in der Lage aufzuzeigen, wie die Führer der DDR ihre Organe und ihre Macht einsetzten, um die eigene Bevölkerung und den eigenen Staat für ihre ganz persönlichen Zwecke und vor allem für ihre Machterhaltung zu missbrauchen, auch wenn das nicht jeder Einzelne so gespürt haben muss. Obwohl das NS-Regime für jeden der es erlebte, eine Lehre gewesen sein sollte, etablierte 1945 die Sowjetunion mit Hilfe von deutschen Bürgern ein weiteres anti-demokratisches Regime auf deutschem Staatsgebiet, wenn auch zu Beginn mit dem Ziel ein besseres Deutschland zu schaffen. Die Umsetzung erfolgte jedoch teilweise mit den gleichen Mitteln, die schon das Vorgänger-Regime anwandte. Darüber hinaus hatte die UdSSR nicht vor, ihren Einfluss jemals freiwillig aufzugeben, es sei denn, eine Wiedervereinigung nach ihren geforderten Bedingungen.[iii] Dieser sozialistische Zustand nach sowjetischer Prägung dauerte diesmal fast 45 Jahre lang.

 

 

Die nach dem Sieg über das Deutsche Reich durchgeführte Entnazifi­zierung der Alliierten endete letztendlich im Westen ebenso wie im Osten als Posse. Im Osten fand dies jedoch sehr schnell unter den politischen Interessenla­gen der Staatspartei statt und endete als Selbstbeweihräucherung eines selbsternannten antifaschistischen Staates. Experten mit brauner Vergangenheit waren jedoch auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs bald wieder gefragt und so bekamen Hitlers Helfer eine zweite Chance, um in den Staatsdienst, bei Parteien und Gewerkschaften wieder in verantwortungsvolle Tätigkeiten mit entsprechendem Einfluss aufzusteigen.[iv] Selbst ehemalige SA- und SS-Angehörige arbeiteten bald wieder für die jeweilige Seite[v].

 

Im Westen wurde die Vergangenheit von NS-Entscheidungsträgern (z.B. ehemalige NS-Richter), die noch im aktiven Dienst des Staates standen, spätestens durch die Studentenbewegungen in den 60ziger Jahren verstärkt und lautstark an die Öffentlichkeit gebracht (darunter hochrangige Politiker von Bundes- und Landeregierungen). Die DDR unterstützte diese Bewegungen im Westen finanziell über verschiedene Organisationen, natürlich mit dem Ziel, den kapitalistischen Gegner zu destabilisieren. In ihren eigenen Reihen vermieden die Verantwortlichen der DDR jedoch, dieses Thema anzusprechen bzw. aufzuarbeiten. Parteiinterne Analysen von 1954 ergaben, dass DDR-weit 25,8 Prozent der Mitglieder eine NS-Vergangenheit hatten. Manche Parteiorganisationen hatten nach der SED-Statistik mehr als 85 Prozent der Mitglieder mit NSDAP Vergangenheit. Im Gegensatz zu den öffentlichen Verlautbarungen der DDR Staatsführung, wurden in den 1980er Jahren in das letzte SED-ZK noch 14 ehemalige NSDAP-Mitglieder berufen (z.B. ein Staatsratssekretär, ein Minister, ein stellvertretender Minister oder ein Vorsitzender einer Arbeitsgruppe beim Nationalrat v. a.) – siehe Fußnoten und Links.

 

Eine vollständige Darstellung über die Wiederauferstehung ehemaliger NSDAP, SA oder SS-Mitglieder in Ost und West ist hier nicht möglich. Ich verweise deshalb auf die Vielzahl von Nachschlagewerken und wissenschaftlichen Ausarbeitungen für diese Zeit. Es ist jedoch auch mit diesen wenigen Beispielen zu erkennen, welche Rolle diese Leute in Ost und West nach 1945 mit Wissen, Duldung und Unterstützung der Alliierten wieder spielten. Eine Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes erfolgte in West-Deutschland unzureichend oder schleppend. In der DDR gab es eine derartige, vergleichbare Aufarbeitung bis zum Jahr 1989 so gut wie nicht, da der Faschismus nur dem Westen zugeschrieben wurde.

 

Unsere Nachbarstaaten erkannten zum Teil erst spät, dass es gut wäre, auch eine Aufarbeitung dieser für sie schlimmen Zeit durchzuführen. Nicht weil es uns Deutsche entlasten würde, sondern weil es auch ihre Geschichte ist. Doch wir Deutsche sollten uns hüten mit dem Finger auf andere zu zeigen. Nur wer vor seiner eigenen Haustüre gekehrt hat, kann ohne Schmutz an den Schuhen in die Zukunft gehen. Dazu muss man allerdings seine Vergangenheit kennen und annehmen. Da haben wir auch 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und 25 Jahre nach der SED-Diktatur noch immer genug zu tun.

 

Geheimdienste existierten ab dem ersten Tag nach der deutschen Kapitulation mit der jeweiligen Unterstützung der zuständigen Alliierten Militärs[vi] und rekrutierten vor allem auch hier vorbelastete Leute mit entsprechender Erfahrung. Eine scheußliche Verbindung zwischen den Nachrichtendiensten der Alliierten und Leuten der ehemaligen NS-Geheimdienste bzw. Polizeidienste fand statt. Alle beteiligten sich daran und jeder hatte seine speziellen Nazis. Die Briten, die Leute aus den Sowjetreferaten des Reichsicherheitshauptamtes übernahmen, die Franzosen beschäftigten ehemalige SD-Männer aus der deutschen Besatzungszeit in Frankreich und die Russen hatten Spezialisten aus den Westreferaten von Gestapo und SD. Niemand von Ihnen zog jedoch so viele ehemalige SD-Männer und Abwehr-Angehörige in seine Obhut, wie das CIC.[vii]

 

Trotzt der eingetretenen Entspannungspolitik ab 1969, übte die DDR bis 1985 nach einem exakten Plan, wie die militärische Lage im dem durch die NVA eroberten Westteil Berlins zu stabilisieren wäre[viii]. Es fanden dafür regelmäßig militärische Übungen, wie Häuserkämpfe, etc., statt. Derartige Angriffspläne für den Osten existierten im Westen, bei der Bundeswehr oder NATO, nicht. Allerdings wäre im Falle eines Angriffes des Warschauer Paktes, der zahlenmäßig bei den konventionellen Streitkräften dem Westen überlegen war, vermutlich ein atomarer Krieg entstanden. Die Risikoeinschätzung der Führer der UdSSR war in diesem Zusammenhang, zu unserem Glück, ganz offensichtlich realistisch genug, um ihrem Hegemonialstreben Richtung Westen Einhalt zu gebieten. Man mag sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn jemand, auf welcher Seite auch immer, eine andere Risikoeinschätzung vorgenommen hätte. Wir Deutschen hätten uns dann ganz sicher keine Kopfschmerzen mehr zu machen brauchen, da es uns auf beiden Seiten der Mauer nicht mehr gegeben hätte (siehe: Das US-Nationalarchiv hat detaillierte Ziellisten für Nuklearwaffen freigegeben. Ende der 50er standen 1.200 Städte des Ostblocks darauf, Ost-Berlin allein 68 Mal. Auch der Westteil wäre verglüht.- Quelle: Die Welt, 23.12.2015).

 

Noch viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben nicht wenige Deutsche und Österreicher[ix] erklärt, dass nicht alles schlecht gewesen sei, dass das Hitler-Regime hervorgebracht hätte. Nach dem Mauerfall in 1989 wiederholten sich teilweise solche Äußerungen. Diesmal von ehemaligen Bürgern der DDR[x] bezogen auf das SED-Regime. Selbst das Ministerium für Staatssicherheit haben manche, auch noch viele Jahre nach dem Mauerfall, als ganz normale Behörde bezeichnet. Es steht mir nicht an, über diese Menschen zu urteilen, doch die Beschönigung und Verharmlosung von Unrecht und Diktatur, egal welcher ideologischen Couleur, ist die beste Voraussetzung für neues Unrecht. Wer das nicht erkennt, hat nichts aus der Geschichte gelernt. Die Entwicklung in Europa im Jahr 2015 und 2016 zeigt außerdem, dass nationalistisches Gedankengut wieder auf dem Vormarsch ist. Offensichtlich haben diese Leute nicht gelernt, dass Nationalismus nie gut ist, sondern immer eine zerstörerische Wirkung ausübt. Dem sollten wir energisch und mit aller Kraft entgegentreten, wo immer auch solches Gedankengut sich wieder breitzumachen gedenkt.

 

 

 

Menschenrechte sind unteilbar, daran sollten wir immer denken.

 

 

 

In diesem Roman sind Informationen aus einer Vielzahl von Quellen und Archiven eingeflossen. Darüber hinaus fanden Recherchen, Erzählungen und Erinnerungen, auch bezogen auf die eigene Familie, ihren Niederschlag. Manche der verfügbaren und benutzten Quellen wurden als Endnoten bzw. Verweise aufgeführt. Bei alledem existiert jedoch ein Vielfaches mehr an Informationen, Dokumentationen und Unterlagen aus öffentlichen und privaten Archiven oder wissenschaftlichen und journalistischen Berichten. Vieles davon ist heute direkt über das Internet einsehbar. Eine vollständige Darstellung der politischen Verhältnisse in Ost und West, und jedem Aspekt gerecht zu werden, ist deshalb nicht möglich. Das war auch nicht das Ziel dieses Romans. Andernfalls hätte es ein Geschichtsbuch auf wissenschaftlicher Basis werden müssen.

 

 

 

Als Autor dieser Geschichte habe ich mir, bei allen realen Geschehnissen dieser Zeit, die teilweise hier mit einflossen, sämtliche Freiheiten genommen, die ich für nötig hielt. Erfundenes und Reales wurde deshalb neu in Zusammenhänge gestellt und zu diesem Roman geformt. Nichts davon geschah infolgedessen so, wie hier beschrieben, aber es hätte durchaus so passiert sein können. Wer weiß das schon so genau.

 

 

 

Quellenverweise sind im Buch vorhanden

 

 

 

 

Nichts auf dieser Welt ist gefährlicher, als aufrichtige Ignoranz und gewissenhafte Dummheit.

 

Martin Luther King